folge mir in die Schatten ...
 

„Ich habe keine Angst vor ihm.“ - „Das ist ein Fehler. Glauben Sie mir.“

Felicia Th. Grey , "Bittere Schatten" 

Die Handlung

 


Dies ist kein Märchen. Denn wer auch immer der Mann ist, der Angéla in der wilden Bergwelt Rumäniens zur Hilfe kommt: Er ist ganz bestimmt kein Prinz. Die Leute unten im Dorf sagen, Lucas sei „anders“ und meiden seine Nähe.

Angéla ist auf der Flucht und hat keinen Grund, je wieder einem Mann zu vertrauen. Aber hier, in einem verfallenden Gutshaus, abgeschnitten von aller Welt, ist sie verzweifelt auf Hilfe angewiesen, denn sie wird immer noch verfolgt. Lucas will sie schützen und wird dabei in einen tödlichen Konflikt hineingezogen in welchem die Rollen zerfließen: Wer ist Jäger und wer die Beute, wer der Mensch und wer das Monster?

Und kann Angéla hinnehmen, dass Lucas den Preis für ihre Freiheit zahlt? Denn Lucas hat ein Leben lang gegen seine dunkle Seite angekämpft; um Angéla zu retten muss er nicht sein Leben opfern.

Nur seine Seele.


Rumänien, Wildnis

 



Der Anfang ...

Tag 1, Mittag

Aus der Ferne war ihr die Bergkette wie eine Antwort auf ihre Gebete erschienen, wie ein Märchen: Höhenzüge in Smaragdgrün und Kupfergold, die sich emporreckten, um mit dem Blau des Himmels zu verschmelzen.

Aber aus der Nähe es war ein Albtraum.

Das rechte Vorderrad ihres Autos drehte durch und ein Stakkato von hochgeschleuderten Steinen hämmerte gegen den Wagenboden. Der kleine Citroën rutschte ein Stück zur Seite, tiefer in die ausgewaschene Fahrspur hinein. Angéla umklammerte das Lenkrad, gab behutsam Gas: Die Reifen griffen erneut, das Fahrzeug schüttelte sich und fand auf dem Geröll etwas Halt.

„Wer biegt auch in so einer Gegend von der Hauptstraße ab?“ Sie sagte es laut, einfach nur, um eine menschliche Stimme zu hören. „Ich hätte einfach weiterfahren können, dann wäre ich jetzt schon längst angekommen. Irgendwo.“ Das Wort auf dem Schild hatte so ähnlich ausgesehen wie ‚Zlatana‘ – aber eben nur so ähnlich. Sie war dumm gewesen. Mal wieder.

Die Straße war seit heute Morgen immer schlechter geworden, hatte sich aufgelöst in ein Schotterband, dann zu zwei steinigen Furchen, die ohne Ende weiterführten, hinein in die Wildnis der Trascău-Berge.

Das Auto rutschte und bockte, quälte sich mit jaulendem Motor den nächsten Hang hinauf, bis es endlich die Kuppe erreichte. Mit einem Aufatmen ließ sie das Fahrzeug ausrollen und löste die verkrampften Hände. Das Stück Weges vor ihr war um nichts besser als der Teil, der bereits hinter ihr lag. Sand, Geröll, kaum mehr als zwei ausgespülte Kerben. Rechts und links drängte sich Unterholz an die Fahrspuren, beschattet von den tief hängenden Ästen der Bäume.

Überall lauerte Wald. Nichts als Wald. Ein finster wartendes Grün – in genau dem Farbton, der auch große Bereiche auf ihrer Landkarte bedeckte. Sie lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze, ließ den Blick wandern. Durch ein Seitenfenster. Durch die Frontscheibe und das andere Seitenfenster. Zum Rückspiegel. Ringsum war nichts zu sehen als das Schwanken der Zweige.

Sie öffnete die Verriegelung und drückte die Tür auf.

Kalte Luft schlug ihr entgegen. Sie strömte unter dem Blätterdach hervor, trug mit sich den Geruch nach Harz und verrottendem Holz, so herb wie die Duftmarke eines Tieres. Angéla spähte einen langen Moment ins Dickicht, warf dann die Autotür zu. Das Geräusch hallte zwischen den Baumstämmen. Irgendwo stoben ein paar Vögel auf.


Dicke Äste krümmten sich über die Straße und oberhalb der Baumspitzen huschten einige dunkle Schatten vorüber. Von oben musste das Fahrzeug aussehen wie ein verlorener blauer Käfer in einem Meer aus Grün.

„Nur kann dieser Käfer leider nicht fliegen.“

Sie dehnte den schmerzenden Rücken und horchte: Einige kleine Steine knirschten unter ihren Schuhsohlen. Zweige knarrten. Die Baumwipfel rauschten im Wind. Sonst war alles still; keine Geräusche von Motoren, kein Flugzeug am Himmel. Nicht einmal Vogelstimmen waren zu hören. Sie schaute den Weg entlang nach hinten, von wo sie gekommen war. Dort war nichts zu sehen außer den zerrupften Vorhängen aus Tannengrün, die sich über die Straße neigten. Niemand folgte ihr.

Sie fröstelte. Wie spät mochte es sein? Die Uhr im Armaturenbrett war schon kaputt gewesen, als sie den Wagen letztes Jahr gekauft hatte. Kurz nachdem sie –

Sie zwang ihre Gedanken in die Gegenwart. Die Uhrzeit war egal; sie hatte bestimmt noch mehrere Stunden Tageslicht, genug um die nächste Stadt zu erreichen. Die Strecke zurück nach Bărlesti-cătum war jedenfalls zu lang, um sie noch bei Helligkeit zu schaffen.

Vom Beifahrersitz zog sie ihren kleinen Rucksack herüber, fischte das Handy heraus. Ein einzelner Balken für die Signalstärke zitterte kurz, dann war auch der weg. Sie stopfte das Gerät zurück, holte stattdessen die Wasserflasche hervor und trank einen Schluck; das Wasser war lauwarm und schmeckte nach Plastik. Sie hatte ein halbes Paket Kekse und auf der Rückbank lag ihre Reisetasche. Nicht sehr viel, um ein Leben neu aufzubauen.

Noch vor vier Tagen hatte das Auto auf dem Boulevard vor ihrer Wohnung gestanden, eingeklemmt zwischen einem Müllcontainer und dem Zeitungsständer vor Didiers Kiosk – jetzt war Lyon weit weg.

„Aber nicht weit genug.“

Unwillkürlich rieb sie sich ihre linke Handfläche. Die Narben darin formten ein hässliches Muster, das hoffentlich in den nächsten Monaten verblassten würde. Nun, hier in der Berglandschaft Rumäniens würde niemand sie finden, sie wusste ja nicht einmal selber, wo sie war. Im Unterholz knackte es. Ihr Kopf ruckte herum: Nur Zweige, Büsche, die im Wind schwankten. Sie reckte sich noch ganz kurz und stieg dann schnell wieder ins Auto, ließ den Motor an. Irgendwo musste die Straße hinführen.